Wie kaum ein anderer Komponist, der auf Schweizer Boden geboren wurde, konnte Joachim Raff (1822–1882) zu Lebzeiten internationale Erfolge feiern und sich zu den meistgespielten Komponisten im deutschen Kulturkreis zählen. Nach seinem Tod geriet sein umfangreiches Oeuvre aber allmählich in Vergessenheit und wurde in der Musikgeschichtsschreibung zur Fussnote degradiert. Doch die Erforschung seiner Biographie und seiner Werke können einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts leisten. Mit der Gründung eines Joachim-Raff-Archivs will die Joachim-Raff-Gesellschaft Quellen zu seinem Wirken aufbereiten und der Forschung zugänglich machen.
Bereits im Jahre 1919 schrieb der damals in der Schweiz lebende Pianist und Komponist Ferruccio Busoni an Volkmar Andreae, den damaligen Chefdirigenten der Tonhalle Zürich, dass er sich wundere, dass man in der Schweiz seinen «berühmtesten Musiker – Joachim Raff – so völlig vernachlässigt». Dennoch fanden erst seit den 1970er-Jahren Werke Raffs wieder vermehrt den Weg auf die Spielpläne. Heute liegt ein beträchtlicher Teil seiner Kompositionen auf Tonträger vor, eingespielt von namhaften Interpreten. Auch Musikwissenschaftler nehmen sich seiner nun vermehrt an, so dass man von einer regelrechten Raff-Renaissance sprechen kann.
Ein etwas genauerer Blick auf sein in der Musikwissenschaft bisher erst sporadisch untersuchtes Oeuvre lohnt sich allemal. Es beinhaltet alle denkbaren Gattungen, darunter sechs Opern, elf Symphonien, viel Kammermusik sowie Klavierwerke aller Art, die stets auf die Geschichte ihrer jeweiligen Gattung reagieren. Dass Raff spannende Werke von hohem Eigenwert komponierte, z. B. seinerzeit hoch gelobte Opern (König Alfred, Samson), programmatische Kammermusik, radikale Shakespeare-Ouvertüren sowie Werke in der alten Suitenform, verschwand unter dem ihm angehefteten Etikett des «Eklektizismus», obwohl sie eine Betrachtung durchaus wert sind. Raffs Briefwechsel geben Einblick in die Entstehung seiner Werke, ihre ästhetische Positionierung und ihre Wahrnehmung. Wie Raff es von jedem «denkenden Musiker» erwartete, reagierte er zudem als überaus gelehrter, scharfsinniger und unterhaltsam formulierender Musikpublizist auf die vielseitigen ästhetischen und gesellschaftlichen Fragen seiner Zeit und stand in engem Kontakt mit der musikalischen Elite des deutschsprachigen Raums. Durch die Auswertung seiner Korrespondenz und seines Schrifttums können daher auch neue Einblicke in das Leben und Wirken anderer, heute bekannterer Persönlichkeiten wie Franz Liszt oder Richard Wagner gewonnen werden.
Bisher stützte sich die Raff-Biographik weitgehend auf das «Lebensbild», das seine Tochter Helene 1925 veröffentlichte, und einzelne von ihr herausgegebene Briefwechsel. Die Hinzuziehung der zahlreichen weiteren, noch nicht ausgewerteten Quellen kann jedoch die Tiefenschärfe des Raff-Bildes enorm verbessern. Die Katalogisierung von seinem umfassenden Nachlass in der Bayerischen Staatsbibliothek München ist noch nicht abgeschlossen, die Bestände zahlreicher Archive wurden noch nicht auf Raff-Quellen hin durchsucht. Zudem harren unzählige Rezeptionszeugnisse wie Rezensionen oder Konzertberichte, sogar zahlreiche Texte, die Raff selbst für Zeitschriften und Tageszeitungen verfasste, der Entdeckung. Hier kommt die 1973 in seinem Geburtsort Lachen gegründete Joachim-Raff-Gesellschaft ins Spiel. In den letzten Jahren war sie aktiver denn je, wie nicht nur die umfassende, reich bebilderte Raff-Biographie – verfasst von ihrem Präsidenten Res Marty –, sondern auch drei Ausstellungen in Lachen, Rapperswil und Winterthur belegen.[1] Um diesen Schwung im Jahr 2017 weiterzuführen, verliessen im Herbst 2016 gut drei Dutzend Anträge die Büroräume der Gesellschaft. Die Mission: Gründung eines Joachim-Raff-Archivs. Dank der grosszügigen Unterstützung durch öffentliche Hand und zahlreiche Stiftungen wurden der Gesellschaft bereits fünf Sechstel des dafür eingeplanten Budgets zugesichert. Einige Anträge stehen noch offen.
Für das Archiv sollen systematisch Originale und Kopien wichtiger Quellen zu Leben und Werk Raffs zusammengetragen und für die Forschung bereitgestellt werden. Dabei muss das Archiv nicht bei Null beginnen, da Res Marty in den letzten Jahrzehnten umfangreiches Quellenmaterial zusammengetragen hat, das aber noch katalogisiert und ergänzt werden muss. Über einen online verfügbaren Katalog soll auf die Metadaten der Literatur-, Zeitschriften- und Notensammlung zugegriffen werden können. Das Archiv legt zudem ein Briefverzeichnis mit Regesten sowie eine Werkdatenbank an, während die überarbeitete Website der Joachim-Raff-Gesellschaft und später eine eigene Schriftenreihe der Publikation von interessanten Entdeckungen, Quellen oder Forschungsergebnissen dienen soll. Dank der tatkräftigen Unterstützung von Stefan König, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Reger-Institut Karlsruhe wirkt, kann sich das Joachim-Raff-Archiv an den Strukturen eines der modernsten und vorbildlichsten Komponisteninstitute im deutschsprachigen Raum orientieren. In der Sammlung Res Marty befinden sich neben mehreren Autographen gut vierzig Originalbriefe von Raff sowie etliche von Zeitgenossen (z. B. Franz Liszt, Clara Schumann und Hans von Bülow), darüber hinaus Erstdrucke und Bildmaterial, die dem Archiv als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt werden. Um diese attraktiven Ausstellungsgegenstände öffentlich präsentieren zu können, stellt die Gemeinde Lachen der Joachim-Raff-Gesellschaft in naher Zukunft Räumlichkeiten im Nachfolgebau von Raffs Geburtshaus zur Verfügung.
Seit Jahresbeginn läuft das Projekt auf Hochtouren. Um den neuen Anforderungen gerecht zu werden, wurden die Statuten der Joachim-Raff-Gesellschaft zum ersten Mal seit der Gründung 1973 angepasst; interne Richtlinien für den Katalog, das Briefverzeichnis und die Werkdatenbank wurden verabschiedet. Seltene Erstdrucke von Raffs Sternau-Liederopera 52 und 53 sowie Dutzende von Büchern, die Raffs Umfeld besser zu verstehen helfen, konnten bereits angeschafft werden.
Erste spannende Recherchefunde liessen nicht lange auf sich warten. Die im Rahmen des Projekts zum ersten Mal ausgewerteten Briefe an seine Verleger zeichnen den jungen Raff beispielsweise als strategisch agierenden Komponisten, der mit äusserster Hartnäckigkeit seinen Lebenstraum vom Komponistendasein herbeizuzwingen versucht, dafür gut zwanzig Jahre von der Hand im Mund leben muss und sich dabei immer wieder zu kompromisslosen Worten im Dienste seiner Weltsicht hinreissen lässt. Die Erschliessung der Verlegerbriefe konnte zudem Licht in die Genese zahlreicher Werke bringen, was dem im Entstehen begriffenen Raff-Werkverzeichnis des englischen Raff-Enthusiasten Mark Thomas, mit dem die Joachim-Raff-Gesellschaft eng zusammenarbeitet, zugutekommt. Ein Beispiel: Raff verliebte sich in seiner Weimarer Zeit in die Sängerin Emilie, die Tochter des Theaterdirektors Eduard Genast. Da deren ältere Schwester Doris allerdings noch nicht unter der Haube war, wurde Raff nahe gelegt, sich mit dieser zu verloben. Kompositorisch verarbeitete er diese nicht ganz leichte Zeit mit dem autobiographisch zu verstehenden, unveröffentlichten Liederzyklus «Todte Liebe» (WoO 20A), wie in einem Verlegerbrief deutlich wird. Von einem im selben Brief angekündigten «Buch der Liebe» für seine spätere Frau Doris – allem Anschein nach führten die beiden übrigens eine glückliche Ehe – fehlt hingegen jede Spur.
Auch zahlreiche Zeitschriftenbeiträge aus Raffs Feder konnten entdeckt werden. Über den Briefwechsel mit Schott liess sich das Pseudonym Raffs, das er in seiner ersten Phase als Zeitschriftenredaktor verwendete, eruieren: Kalophilos, «Liebhaber des Schönen», natürlich in griechischer Schrift. Raffs zum ersten Mal ausgewertete Kölner Korrespondenz (1846–47) unter diesem Pseudonym in der Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung gibt mit hohem Unterhaltungsfaktor und durchaus auch literarischem Wert Auskunft über seine gemässigt-liberale politische Ausrichtung, über musikalische Überzeugungen und seine Abneigung gegenüber einigen etablierten Figuren des Kölner Musiklebens. Da diese Gruppe um Ferdinand Rahles in anderen musikalischen Organen gegen Raff mobil machte, wird man Zeuge einer öffentlich ausgetragenen Schlammschlacht, die wohl keinen geringen Einfluss darauf hatte, dass Raff Köln bald wieder hinter sich liess. Seine Rezensionen zeigen ihn wie in seiner einzigen Monografie Die Wagnerfrage als kritischen, scharfsinnigen Analytiker, der zwar nicht mit Sarkasmus geizte, aber auch durchaus wohlwollende Töne fand.
Es ist zu erwarten, dass die Erschliessung weiterer Quellen in ähnlichem Masse dazu beitragen wird, dass Raff sowohl als Person als auch als Komponist schärfere Konturen annimmt. Arbeit gibt es genug: Hunderte Briefe sowie ganze Stapel von Büchern und Zeitschriften warten noch auf die Auswertung.
Auf unserer Website wird regelmässig über den Stand des Projektes und neue Entdeckungen berichtet. Über Hinweise zu Quellen in Privatbesitz ist die Gesellschaft sehr dankbar.
[1] Vgl. Marty, Res: Joachim Raff. Leben und Werk. Eine Biographie, Altendorf 2014.